TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: “Überraschend, und doch erwartet”, von Mario Zenhäusern

TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: “Überraschend, und doch erwartet”, von Mario Zenhäusern

Ausgabe vom Montag, 13. Juni

Innsbruck (OTS) – Die Tiroler Landtagswahlen werden vorverlegt, Landeshauptmann Günther Platter wird nicht mehr antreten. Neuer Spitzenkandidat der ÖVP wird Toni Mattle, der vor einer Herkulesaufgabe steht.

Die Ankündigung von Landeshauptmann Günther Platter, entgegen seinen bisherigen Aussagen bei den bevorstehenden Landtagswahlen doch nicht mehr zu kandidieren, kam gestern vom Zeitpunkt her überraschend. Letztlich aber war der Rückzug des langjährigen Spitzenpolitikers von vielen seit geraumer Zeit erwartet worden. Einen direkten Auslöser für den Schritt gibt es nicht, aber eine ganze Reihe von Gründen.
Fakt ist: Mit der neuen ÖVP, geprägt von Alt-Kanzler Sebastian Kurz, konnte sich der deklarierte „Schwarze“ Platter nie richtig anfreunden, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit mit Kritik an Strahlemann Kurz immer zurückhielt und ihn auch heute noch verteidigt als Mann, der die ÖVP zu sensationellen Wahlerfolgen geführt hat. Die Schattenseiten der Ära Kurz blendet er dabei meist aus. Die für die ÖVP und ihre Anhänger fatalen Folgen dieser Zeit – Chataffären, Untersuchungsausschüsse, Misstrauensanträge, Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen ranghöchste ÖVP-Minister und -Funktionäre, der mitunter raue Umgangston unter den „Parteifreunden“ und vieles mehr – machten Platter schwer zu schaffen. Die ständigen Skandale auf Bundesebene, die raschen Wechsel im Bundeskanzleramt und in den diversen Ministerien zermürbten den seit wenigen Tagen 68-Jährigen. Hinzu kamen persönliche Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen und die Tatsache, dass auch seine eigene Hausmacht bröckelte. Die Umfragewerte sanken auch in Tirol auf ein Rekordniveau, die Kritik – etwa der Touristiker, die sich von Platter zu wenig vertreten fühlen – wurde zusehends lauter.
Wenn Günther Platter jetzt den Platz an der Spitze der ÖVP frei macht, weicht er damit natürlich einer sich abzeichnenden Wahlniederlage und einer schwierigen Regierungsbildung aus. Die wurde mit dem Rückzug seiner langjährigen Koalitionspartnerin Ingrid Felipe und der Wahl von Gebi Mair zum Spitzenkandidaten der Grünen um nichts leichter. Platters Rückzug macht den Weg frei für eine Neuausrichtung der ÖVP in Tirol. Vor allem die jungen Wählerinnen und Wähler erwarten sich von der Politik Antworten auf die brennenden Fragen der Gegenwart. Themen wie Klimaschutz, Ener­giewende, leistbares Wohnen oder soziale Gerechtigkeit bedürfen mehr als der Überschriften in den diversen Koalitionsübereinkommen auf Bundes- und Landesebene. Ob Toni Mattle für diese Aufgabe der Richtige ist, wird sich weisen. Auf jeden Fall erspart der Rückzug Platters und die gleichzeitige Vorverlegung der Landtagswahl uns allen einen langen, zermürbenden Wahlkampf. Immerhin.

Tiroler Tageszeitung
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