TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Europas Sterne verlieren an Glanz“, von Christian Jentsch

TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Europas Sterne verlieren an Glanz“, von Christian Jentsch

Ausgabe vom Freitag, 18. September 2020

Innsbruck (OTS) – In ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union appellierte Kommissionschefin Ursula von der Leyen an ein starkes gemeinsames Europa. Doch die Fundamente Europas werden untergraben, von innen und von außen.

Europas Sterne glänzen immer noch. In Sachen Demokratie, in Sachen Lebensstandard ist Europa im weltweiten Vergleich einzigartig. Doch es wird daran gearbeitet, sie vom Himmel zu holen – von außen, aber auch von innen. Das Fundament Europas wird untergraben und es fehlt der Mut, dem etwas entgegenzusetzen.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versuchte sich in ihrer Rede zur Lage der EU wieder einmal mit große­n, bedeutungsschwangeren Worten. Sie appellierte an ein gemeinsames starkes Europa. An ein Europa, das Vorreiter im Klimaschutz sein soll, ein Europa, das in einer Gesundheitskris­e wie der gegenwärtigen Corona-Pandemie an einem Strang ziehen soll, ein Europa, das sich auf eine gemeinsame Migrationspolitik einigen muss. Worte, die Europa festigen, einigen und motivieren sollen. Doch leider auch Worte, die schnell wie Seifenblasen zu zerplatzen drohen. Die leere Hülsen bleiben und nicht mit konkreten Inhalten gefüllt werden.
Europa kann nur so stark sein, wie es die 27 Mitgliedsländer zulassen. Und von einem gemeinsamen Weg ist da nur wenig zu sehen. Die Corona-Krise hat uns wieder vor Augen geführt, wie schnell sich auch innerhalb der Union die Grenzbalken senken können und wie wenig von einer gemeinsamen Strategie zu sehen ist. Doch nicht nur Corona schwächt die Union. Seit Jahren untergraben die Regierungen in Polen und Ungarn die Fundamente Europas, in dem sie den Rechtsstaat auszuhöhlen versuchen. Gegen beide Staaten läuft ein Verfahren nach Artikel 7 wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Es geht um die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit und die Rechte von Flüchtlingen und Minderheiten. Doch wenn es darum geht, ein Machtwort zu sprechen, windet sich die Union nach Kräften – von der Kürzung von EU-Fördergeldern im neuen mehrjährigen Finanzrahmen ist nur noch sehr verhalten die Rede.
Und in Sachen gemeinsamer Flüchtlingspolitik gibt es ohnehin kaum Hoffnung. Nur: Das ewige Blockieren und Wegschauen wird das Problem nicht lösen. Vor allem dann nicht, wenn vor den Toren Europas weiterhin fleißig Krieg gespielt wird. So wie der Krieg in Syrien, der an Grausamkeit und Zynismus kaum zu überbieten ist. Syrien wurde zum Schlachtfeld der verfeindeten Regional- und Supermächte. Ebenso wie Libyen. Europa ist nur Zuseher, wenn Millionen Menschen vertrieben und zum Spielball der verschiedenen Interessen werden. Und in der Flucht nach Europa ihre letzte Hoffnung sehen. Europa wird reagieren müssen, innen wie außen. Sonst werden seine Sterne verblassen.

Tiroler Tageszeitung
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