Österreichische Nationalbibliothek erwirbt literarischen Nachlass von Thomas Bernhard
Österreichische Nationalbibliothek erwirbt literarischen Nachlass von Thomas Bernhard
Wien (OTS) – Nach jahrelangen Bemühungen ist es der Österreichischen Nationalbibliothek mit Unterstützung des BMKOES gelungen, einen der bedeutendsten deutschsprachigen Nachlässe des 20. Jahrhunderts zu erwerben. Die weltweite Rezeption der Werke Thomas Bernhards und die Zahl der Inszenierungen in vielen Ländern unterstreichen die Wirkung dieses Nachlasses: Einerseits aufgrund der Vollständigkeit und Reichhaltigkeit der Materialien, andererseits durch die literarische, philosophische und politische Dimension des Werks.
Der Nachlass
Thomas Bernhards Nachlass ist nahezu vollständig überliefert, er deckt die gesamte literarische Produktion ab und liefert damit Einsicht in einen Schreibprozess, der über Jahrzehnte kaum je ins Stocken geriet. Zu diesem Ganzen gehören die vielen Teile, die im Nachlass überlieferten Fragmente und Entwürfe. Somit bildet dieser Bestand eine unverzichtbare Materialbasis, aus der der Zusammenhang zwischen Leben und Werk, von Bernhards Schreibanfängen bis zu seinem Tod, deutlich wird.
„Ich freue mich, dass der umfangreiche schriftstellerische Nachlass Thomas Bernhards, der auch die Schriften und Briefe seines Großvaters, Johannes Freumbichler, umfasst, an die Österreichische Nationalbibliothek geht“, so Kunst- und Kulturstaatssekretärin Mag. Andrea Mayer. „Großer Dank gilt dem Verhandlungsteam und Dr. Peter Fabjan, der das Erbe seines Bruders mehr als drei Jahrzehnte lang professionell und mit großer Umsicht betreut und wesentlich zur internationalen Wirkung dieses einzigartigen Autors beigetragen hat. Der Erwerb des Nachlasses ist auch ein Auftrag: nämlich das Werk Bernhards in seiner Entstehung zu erforschen, immer wieder aufs Neue auf seine Aktualität hin zu befragen und in Ausstellungen, Sonderschauen, Lesungen, Diskussionen und anderen Formaten dem literaturinteressierten Publikum zu präsentieren. Und es gibt keinen besseren Ort dafür als die Österreichische Nationalbibliothek mit ihrem Literaturarchiv im Michaelertrakt der Hofburg und dem Literaturmuseum in der Johannesgasse“.
Die Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Dr. Johanna Rachinger, betont: „Thomas Bernhards Werk ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, es ist Teil der Weltliteratur. Für mich ist dieser Nachlass einer der bedeutendsten Zugänge in der Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek. Wir sind uns der Verantwortung bewusst, diesen Bestand langfristig für die Forschung und die Allgemeinheit zu sichern.“
Der Nachlass umfasst sämtliche veröffentlichten und unveröffentlichten Werke sowie alle überlieferten Korrespondenzen. Allein an unveröffentlichten Texten sind über 150 Titel verzeichnet, hinzu kommen Notizen und autobiografische Aufzeichnungen. Der Werk-Bestand macht knapp 30.000 Blätter mit Handschriften, handschriftlich korrigierten Typoskripten und Fahnenkorrekturen aus. Die Korrespondenz setzt sich aus der Familienkorrespondenz, der Verlagskorrespondenz, sowie aus Briefen von Einzelpersonen und Institutionen zusammen. Die umfangreichen Korrespondenzen mit Bernhards Verlagen, hier vor allem mit Siegfried Unseld und dem Suhrkamp Verlag, aber auch mit dem Residenz-Verlag, lassen die Entstehung und die Rezeption der Bücher und Theatertexte nachzeichnen. Bernhards Verhältnis zu seinen Verlegern ist ebenso aufschluss- wie konfliktreich.
In den insgesamt 15 Archivboxen mit Korrespondenzen finden sich Briefe von u.a. Ingeborg Bachmann, Werner Bergengruen, Heinrich Böll, Elias Canetti, Peter Handke, Marlen Haushofer, Hans Werner Henze, Bernhard Minetti, Claus Peymann, Hilde Spiel, Siegfried Unseld oder Alice und Carl Zuckmayer. Die Korrespondenz mit Thomas Bernhards Lebensmenschen Hedwig Stavianicek nimmt was Laufzeit, Umfang und Inhalt anbelangt, eine Sonderstellung ein. Alleine dieser Briefwechsel umfasst 381 hand- und maschinenschriftliche Briefe von Thomas Bernhard und 245 Briefe von Hedwig Stavianicek. Er ist für die Dauer von 10 Jahre nur mit Zustimmung der Erben einsehbar.
Thomas Bernhard hat unablässig geschrieben, korrigiert, Entwürfe verfasst und wieder verworfen. Der Schreibprozess ist wiederholt Thema seiner Texte. Im Roman „Alte Meister“ heißt es: „Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene.“
Der Nachlass eröffnet vielfältige Perspektiven für Publikationen, digitale Editionen, Online-Präsentationen oder Veranstaltungen, um dieses einzigartige Lebenswerk einer breiten Öffentlichkeit noch zugänglicher zu machen. Das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, in dessen Dauerausstellung zur österreichischen Literatur bereits jetzt Filme, Fotos, Briefe und Manuskripte von und zu Thomas Bernhard gezeigt werden, soll Ort für weitere Begegnungen mit Thomas Bernhards literarischem Vermächtnis werden.
Durch die bereits in der Anfangsphase der Bearbeitung des Nachlasses am Thomas Bernhard-Archiv in Gmunden erfolgte Einbindung des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek ist eine Kontinuität in der Bearbeitung gewährleistet. Das Literaturarchiv beherbergt die wichtigsten literarischen Nachlässe und Sammlungen aus Österreich im 20. Jahrhundert, von Karl Kraus und Robert Musil über die mit Bernhard bekannte Hilde Spiel bis zu der von ihm verehrten Ingeborg Bachmann und zu Peter Handke. In diesen Beständen finden sich zahlreiche Bezüge zu Thomas Bernhard, kleinere Sammlungen mit Briefen, Zeichnungen und Lebensdokumenten wurden in den letzten Jahren kontinuierlich erworben.
„Thomas Bernhard hat einen singulären literarischen Kosmos geschaffen, in dem Sprache, Stil und Weltanschauung unauflöslich ineinander verwoben sind. Der Nachlass gewährt Einblicke in die Werkstatt, in der Bernhards Themen wie die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit und das Verhältnis von Geist und Körper angesichts des Todes bearbeitet werden“, so Dr. Bernhard Fetz, Direktor des Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek
In Bernhards Autobiographie spielt die Beziehung zum Großvater, dem Schriftsteller Johannes Freumbichler (1881-1949), eine zentrale Rolle. „Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen“, heißt es in „Ein Kind“ (1982). Der zeitlebens weitgehend erfolglose Schriftsteller Johannes Freumbichler kann als Modell für die vielen scheiternden Künstlerfiguren und Privatgelehrten im Werk Bernhards gesehen werden. Sein 1937 im Zsolnay Verlag erschienener „Salzburger Bauernroman“ „Philomena Ellenhub“ wurde zum „erste(n) und einzige(n) Erfolg“, wie Bernhard in „Ein Kind“ feststellt. Johannes Freumbichlers kompletter Nachlass, bestehend aus Werkmanuskripten, Korrespondenzen, Lebensdokumenten und Sammelstücken im Umfang von 44 Archivboxen wurde ebenfalls erworben.
Werk und Wirkung
Kultfigur und Objekt der Bewunderung für seine Fans, Reibebaum für bereits mehrere Generationen von AutorInnen – Thomas Bernhard ist einer der international wichtigsten und meistdiskutierten Vertreter der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Ab Mitte der 1960er-Jahre bis zu seinem Tod sorgten Werk und Person Thomas Bernhards (1931-1989) für ständig wachsendes Aufsehen. Eine Reihe von öffentlichen Erregungen begleiteten die Rezeption seines Werks. Die öffentlichen Attacken des Autors auf Politiker sind legendär, ebenso wie die Anfeindungen, denen Bernhard ausgesetzt war. Die Aufführung des Stückes „Heldenplatz“ im Gedenkjahr 1988 wurde zu einem Prüfstein für Österreichs Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Weit über einen engeren Kreis der Leserschaft wurde der Autor zu einer öffentlichen Figur, eine Rolle, die Bernhard in Interviews und öffentlichen Stellungnahmen über Jahrzehnte virtuos einnahm.
Bernhard studierte ab 1956 Schauspiel, Regie und Dramaturgie am Salzburger Mozarteum. Im Juni 1957 legte er die Reifeprüfung am Schauspielseminar ab. Das frühe Interesse an Musik und Theater zeigt sich auch an den vielen unveröffentlichten Entwürfen im Nachlass. Mit dem Stück „Ein Fest für Boris“, das am 29. Juni 1970 unter der Regie von Claus Peymann in Hamburg uraufgeführt wurde, begann Bernhards internationale Theaterkarriere, die Anfang der 1960er-Jahre mit kurzen Einaktern und zwei Opernlibretti zur Musik von Gerhard Lampersberg am Kärntner Tonhof eingesetzt hatte. Neben frühen, vor allem Gerichtsreportagen für das Salzburger „Demokratische Volksblatt“ (1952 bis 1954) und Lyrikbänden („In hora mortis“, „Unter dem Eisen des Mondes“, beide 1958) folgten von „Frost“ (1963) über „Verstörung“ (1967) bis zu „Heldenplatz“ (1988) eine große Zahl an Prosawerken und insgesamt 18 abendfüllenden Theaterstücken, die heute zum Kernbestand der deutschsprachigen Literatur zählen. Das literarische Vexierspiel mit Wirklichkeit und Fiktion im Roman „Holzfällen“ oder in der Autobiografie (1975-1982) sorgte für Skandale in der Öffentlichkeit und für literaturtheoretische wissenschaftliche Arbeiten.
Die Wirkung des Autors lässt sich an den zahlreichen künstlerischen Bearbeitungen seiner Werke ablesen, ebenso wie an den stilistischen Anleihen und direkten Bezugnahmen durch viele zeitgenössische Autorinnen und Autoren, vom ungarischen Nobelpreisträger und KZ-Überlebenden Imre Kertész bis zum französischen Skandalautor Michel Houellebecq. Ungezählt sind die wissenschaftlichen Arbeiten, die auf der ganzen Welt zu Bernhards Leben und Werk entstanden. Bernhards Präsenz belegen außerdem die zahlreichen Übersetzungen und aktuellen Theater-Inszenierungen. Es gibt sehr wenige AutorInnen, deren Werk auch Jahrzehnte nach ihrem Tod noch eine vergleichbare internationale Wirkung entfaltet.
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