TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 31. Dezember 2021 von Michael Sprenger „ÖVP im Durcheinandertal“
TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 31. Dezember 2021 von Michael Sprenger „ÖVP im Durcheinandertal“
Innsbruck (OTS) – Nach den Kanzler-Rücktritten, nach Razzien und den laufenden Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft kann der neue Parteiobmann Karl Nehammer vieles sagen, aber nicht: „Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem.“
Jeder Krämer lobt seine Ware. Kann sein, dass dieser Ausspruch auf Horaz zurückgeht. Doch jetzt wollen wir uns nicht über Eigenlob, über das Feilbieten von vielleicht leicht Verderblichem ergehen, sondern uns mit der Selbsteinschätzung in der Politik beschäftigen. Stimmt schon, jetzt kann man dem neuen Obmann der Kanzlerpartei ÖVP nicht vorwerfen, dass er über seine Partei die schützende Hand hält. Doch Karl Nehammer ging zu weit, als er mit dem Brustton der Überzeugung sagte: „Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem.“ Glaubt das Nehammer wirklich – am Ende dieses Jahres, welches für die ÖVP nicht schlimmer hätte verlaufen können? Das ist schwer vorstellbar. Sollte Nehammer tatsächlich denken, was er gesagt hat, dann könnte man getrost von Realitätsverweigerung sprechen. Ja, solange Sebastian Kurz noch Kanzler und Parteiobmann war, übten sich Landeshauptleute, Minister und Bündechefs in Unterwerfungsgesten sonder Zahl. Die Parteigranden jetzt daran zu erinnern, ist den Betroffenen wohl peinlich. Doch mittlerweile hat Kurz die politische Bühne verlassen, wechselt zu einem US-Investor und Fan von Donald Trump. Dies alles sei Kurz unbenommen. Er will mit seiner Vergangenheit abschließen. Doch Nehammer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine schwer angeschlagene Partei aufzurichten, dem sollte anderes einfallen als der Satz: „Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem.“
Was die ÖVP dringend benötigt, wäre eine ehrliche und schonungslose Aufarbeitung der Kurz-Jahre. Zuallererst müssen sich die Verantwortlichen, die heute noch das Sagen in der Partei haben, fragen, ob sie nicht Mitschuld an dem neuen Stil haben, für den Kurz stand? Warum haben sie Kurz kritiklos zum Helden auserkoren, so lange geschwiegen, warum haben sie die Machenschaften im Umfeld von Kurz nicht erkennen wollen, warum hat sich im Nachhinein keiner öffentlich bei Reinhold Mitterlehner entschuldigt, warum hat niemand die Chats nach Bekanntwerden sofort und unmittelbar als das bewertet, was sie sind – niederträchtig und widerwärtig? Warum wurde nicht über die Korruptionsanfälligkeit offen diskutiert, sondern lieber verharmlost, zugedeckt und stattdessen die Justiz über Monate hindurch angegriffen? Gilt also doch: Der Zweck heiligt alle Mittel? Hauptsache Kanzler!
Steht Nehammer für diese Binsenweisheit, dann passt sein Satz. Will er die ÖVP aber nach ihrem Jahr im Durcheinandertal wieder aufrichten, dann müsste er am Beginn seiner Analyse sagen: „Ja, die ÖVP hat ein Korruptionsproblem.“ Und dann kann er hinzufügen, welche Lehren sich für ihn aus dieser Feststellung ergeben.
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