TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Die EU ist mehr als ein Bankomat“, Ausgabe vom 30. Oktober 2021 von Christian Jentsch.
TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Die EU ist mehr als ein Bankomat“, Ausgabe vom 30. Oktober 2021 von Christian Jentsch.
Innsbruck (OTS) – Polen ist der größte Nettoempfänger in der EU, stellt aber im Rechtsstreit mit Brüssel das Fundament der Union in Frage. Die EU ist mehr als ein Bankomat. Dies gilt auch für Polen und Ungarn, die ohne EU düstere Aussichten hätten.
Die Gräben zwischen der EU und Polen werden immer tiefer, der Ton immer rauer. Im Streit um die Rechtsstaatlichkeit, die Brüssel durch die umstrittene Justizreform der rechtsnationalen Regierung in Warschau verletzt sieht, will Polen freilich keinen Zentimeter nachgeben. Und setzt stattdessen auf Konfrontation – in der Hoffnung auf eine Schwächung der Gemeinschaft. Der Rechtsstaat – und mit ihm die unabhängige Justiz, die Trennung der Gewalten und die freie Presse – ist das Fundament der Union. Wenn dieses Fundament untergraben wird, droht das gesamte Haus einzustürzen. Polens Justizreform ist mit den EU-Regeln zur Unabhängigkeit der Justiz nicht vereinbar. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) als oberste Instanz der europäischen Rechtsordnung entschieden. Doch Polen will dem Urteil des EuGH nicht folgen. Und ist sogar noch weiter gegangen. Anfang Oktober entschied das von der Regierung auf Linie gebrachte polnische Verfassungsgericht, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnische Verfassung vereinbar sind. Und stellte damit polnisches vor EU-Recht, was dem Überschreiten einer roten Linie gleichkommt.
Die Regierung in Warschau weigert sich also, die gemeinsame europäische Rechtsordnung als Grundlage einer Gemeinschaft, in der für alle die gleichen Regeln gelten sollten, anzuerkennen. Und von einer Wertegemeinschaft will man nichts hören. Man nimmt lieber. Und das mit vollen Händen. Das Land ist der größte Nettoempfänger in der EU, im Vorjahr erhielt das Land netto rund 12,4 Milliarden Euro. Seit dem Beitritt Polens zur EU im Jahr 2004 flossen netto weit über 100 Milliarden Euro nach Polen. Als Bankomat erweist die EU gute Dienste. Sicher, Polen hat seit dem EU-Beitritt einen großen Sprung nach vorne gemacht, die Wirtschaft brummt, das Land zählte auch in Krisenzeiten zu den wirtschaftlichen Musterschülern in der Union. Auf der anderen Seite finanziert die rechtsnationale Regierungspartei PiS mit den üppigen Zahlungen aus dem geschmähten Brüssel aber auch die teuren Wahlzuckerln für ihre Klientel. Das Geld aus Brüssel ist also auch für die Wahlerfolge jener verantwortlich, die sich mit antieuropäischer Rhetorik brüsten. Im Streit um die Freigabe der 57 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Hilfsfonds für Polen, welche die EU-Kommission im Zuge des Rechtsstreits noch zurückhält, fand Polens Regierungschef Morawiecki in einem Interview jüngst drastische Worte und warnte Brüssel davor, einen „Dritten Weltkrieg zu beginnen“. Im Gespann mit Ungarns Premier Orbán schießt Polens Regierung immer wieder scharf in Richtung Brüssel. Dabei müsste beiden klar sein, dass ihre Länder außerhalb der EU düsteren Zeiten entgegenblicken würden.
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